4. Februar 2014

Beitrag zum Wettbewerb „Geschichten aus 1001 Fahrt“

Kurzgeschichte


Der Märchenzug

  

Es war einmal eine junge Frau, die jeden Tag mit der Bahn nach Köln fuhr, um dort ihrer Arbeit nachzugehen. Die junge Frau war von großer Herzensgüte und Geduld. Die Bahn mit der sie jeden Tag fuhr, war laut und übervoll mit Menschen. Doch die junge Frau dachte, sie würde mit einem Märchenzug fahren, denn es gab dort einen Mann dessen Stimme sie jeden Tag durch die Lautsprecher in der Bahn hören konnte und der aus einem Märchenbuch vorlas.

Das Märchenbuch beinhaltete 1000 und eine Geschichte, warum die Bahn zu spät war, stehen blieb, gar nicht kam oder zurückfahren musste. „Wir werden von einem verspäteten Zug des Fernverkehrs überholt“, „Wir haben eine Signalstörung, eine Stellwerksstörung, eine Bahnübergangsstörung, eine Triebwagenstörung“, „Es kommt zu Verzögerungen im Betriebsablauf aufgrund des Wartens auf Fahrgäste aus einem verspäteten Zug des Fernverkehrs, aufgrund des hohen Fahrgastaufkommens“, „Es brennt auf der Strecke“, „Es befinden sich Personen im Gleis“, „Personenschaden“,
„Ein Schienenbruch“, „Das Gleis ist noch durch einen anderen Zug besetzt“, „Notarzteinsatz“,
„Ein liegengebliebener Zug“, „Polizeieinsatz am Gleis“, „Laub, Schnee, Tiere auf den Gleisen“.

Jeden Tag gab es ein anderes Märchen zu hören, manchmal wechselten die Märchen sogar von Minute zu Minute. Und wenn nicht diese Art von Märchen erzählt wurde, dann gab es noch Geschichten von Fantasieorten, die der Zug oder andere Züge, in die man umsteigen konnte, anfuhren. So hörte die junge Frau von Orten, an die sie nicht mal in ihren kühnsten Träumen gedacht hatte: Liegée, Mäinz, Mönschengladbach oder Wubbertaal. Das alles war so märchenhaft, dass sich die junge Frau keinen besseren Ort als die Bahn vorstellen konnte, um dem grauen Alltag und der harten Realität zu entfliehen. Jedes Mal wenn die Bahn ausfiel, und das passierte nicht selten, wurde die junge Frau ganz traurig. Sehnsüchtig schaute sie auf die Informationstafeln, die, wenn sie nicht kaputt waren, davon kündeten, ob die Bahn kam oder nicht.

Doch dann, an einem grauen Novembermorgen, noch bevor die Sonne aufging, wartete die junge Frau am Gleis auf den Märchenzug. Doch dieser kam nicht, der einzige Zug, der kam, war pünktlich. Widerwillig stieg sie ein. Sie spitzte die Ohren und lauschte, wann endlich aus dem Märchenbuch vorgelesen würde. Aber diesmal blieb der Märchenerzähler die ganze Fahrt lang stumm. Pünktlich und ohne Probleme kam die junge Frau in dem ihr wohl bekannten Ort Köln an. Der Märchenzug war abgefahren. Für immer. Und wenn Sie heute eine junge, traurig aussehende Frau in einem pünktlichen Zug sehen, der ohne Probleme am richtigen Ort ankommt, dann wissen Sie wer sie ist. 


Foto: LoboStudioHamburg/pixabay.com
 

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