Mittagspause
„Wieso gehen Sie hier spazieren,
wenn Sie überhaupt niemanden kennen?“. Es war ein Vorwurf, dem er anhören
sollte, dass er einer war. „Wegen der Ruhe, der Blumen, der Eichhörnchen, die
in den Bäumen umhertollen. Das sind ja wohl genug Gründe.“ Er wurde abschätzig
gemustert. Herr Marré war anscheinend kein Naturfreund und hielt ihn wohl für
einen Spinner, wenn nicht sogar Verbrecher. Er suchte lieber das Weite, bevor
er noch einen Blumentopf an den Kopf bekam.
Es war ein grauer, trübnasser
Tag. Nur Blumen, die die Köpfe hängen ließen und kein einziges Eichhörnchen in
Sicht. Was machte er also hier? Denken und atmen. Das war es und das konnte er
am besten. Vor allem wenn er alleine war. In seinem Büro war er zwar meistens
auch alleine, aber dort konnte jeden Moment ein Kollege hereinschneien und ihn
mit irgendetwas belästigen, das nicht nur seine Laune vermieste, sondern auch
den einen oder anderen guten Gedanken für immer verscheuchte. Er setzte sich
auf eine feuchte Bank und schloss die Augen. Denken und atmen. Denken und
atmen. Plötzlich tippt ihm jemand auf die Schulter. Er hatte es sich fast schon
gedacht: Hilde Kohlbacher. Wie hatte er nur vergessen können, dass das hier ihr
Platz war? Und Filou, ihr kleiner, braungescheckter Terrier war auch wieder mit
von der Partie. Er tänzelte kläffend um die Bank, um anschließend auf dem Rasenstück
sein Geschäft zu verrichten. „Nein Filou, lass das!“ zetert Frau Kohlbacher und
reißt an der Leine. „Ach, er will einfach nicht auf mich hören. Das wollte er
noch nie. Genau wie mein Mann“. „Ich hoffe ihr Mann benutzt die Toilette“, kann
er noch denken, bevor sie ihm auch schon ein Hustenbonbon unter die Nase hält.
„Nehmen Sie ruhig, ich kann es eh nicht gebrauchen“. Er steckt es in seine
Manteltasche. Es würde Zuhause zu den anderen 20 Bonbons in die hässliche
Katzenschale kommen, die er letztes Jahr von seiner Patentante zum 32.
Geburtstag geschenkt bekommen hatte. Eines von vielen hässlichen Geschenken für
das er sich bei seiner Tante aber immer brav bedankte. Und beim Auspacken
spielte er ihr sogar einen freudigen Gesichtsausdruck vor. Das musste als
Zuneigung reichen. Für eine Tante, die, ohne zu zögern, in ein italienisches
Feinkostgeschäft geht, um Monzarella zu kaufen und ihn, trotz seiner 32 Jahre,
überall als ihr Patenkind vorstellt – ob im Damenbekleidungsgeschäft oder im
Reformhaus. Was tat man nicht alles, um niemandem vor den Kopf zu stoßen? Zu
viel. Jedenfalls er. Frau Kohlbacher neben ihm beginnt an ihrer Handtasche zu
nesteln. „Oh nein, nicht noch mehr Bonbons!“ Doch stattdessen holt sie einen
Brief aus der Tasche. „Der ist von meinem Egon, wispert Frau Kohlbacher. Letzte
Woche hat er ihn mir gegeben.“ Eine Träne bahnt sich den Weg über die Falten
ihres Gesichts, um anschließend von ihrer geblümten Bluse aufgesaugt zu werden.
„Betrogen hat er mich. Belogen und betrogen. Zwei Jahre lang. Und ich habe
nichts gemerkt. Oder nein. Ich wollte nichts merken. Da waren immer mal wieder
Anzeichen, aber ich habe sie mit rationalen Argumenten weggewischt und so getan
als wäre alles in Ordnung.“ Frau Kohlbachers Stimme klingt tieftraurig und wird
dann verächtlich. „Er könne das nicht mehr mit sich herum tragen, er wolle es
nicht mit ins Grab nehmen. Pahh, der Feigling.“ Was sollte er dazu sagen. Gab
es das nicht ständig, dass Partner sich betrogen und belogen. Sollte das nicht
sogar Frau Kohlbacher wissen? Er bleibt stumm. Ein Kuckuck ruft in die Stille
hinein. Filou der Terrier antwortet mit einem Kläffen. „Und doch waren all die
schönen Momente zu zweit real. Und auch die Gefühle waren echt. Daran können
auch Lug und Betrug nichts ändern. Aber wehe wir sehen uns wieder, dann setzt
es einige Ohrfeigen, bevor ich ihn in meine Arme schließe!“ Mit diesen
inbrünstigen Worten verschwindet Hilde Kohlbacher so plötzlich wie sie gekommen
ist.
Es ist Zeit weiterzugehen, gleich
ist die Mittagspause um. Bis zur großen Eiche noch, dann würde er umkehren.
Sein Handy blinkt. Er hat eine SMS von seiner Freundin bekommen. Eine lange, in
der sie sich mit unschönen Worten über ihren Chef beschwert, der es nicht
einmal schafft, selber etwas zu kopieren. Gerade als er das Wort „Vollkackchef“
liest, stolpert er über einen Randstein. „Immer langsam mit den jungen
Pferden“, tönt es ihm entgegen. Ein Mann zupft Unkraut aus dem schlammigen
Boden. Eine stattliche Erscheinung: Bundfaltenhose, Maßhemd, Cord-Jacket und
ein goldener Siegelring, der frisch geputzt aussieht. „Darf ich mich
vorstellen. Schnarchendorff, Wilhelm Schnarchendorff“. „Angenehm“, stammelt er
und ergreift die klamme Hand seines Gegenübers. „Ich sehe Sie hier öfter. Aber
immer allein. Sie haben wohl keine Freunde!“ Ein schallendes Lachen erklingt
zusammen mit der Aussage. „Ähm nein, doch ja. Ich…ich bin nur in meiner
Mittagspause hier.“ Keine Freunde. Stimmte das? Da waren Benjamin und Matthias
von früher aus der Schule. Sie trafen sich ab und zu und dann war es auch
wieder so als wäre es früher, als sie zusammen über alles lachen konnten, wenn
auch manchmal erst nach zwei, drei Bier. Und dann gabs da noch ein Paar mit dem
er und seine Freundin öfter etwas unternahmen, aber ist man dadurch befreundet?
Freunde sind da, wenn es einem schlecht geht. Sie kann man um Hilfe bitten, mit
ihnen kann man Probleme bereden. So war es jedenfalls damals in der Jugend.
Aber heute? Da macht man das eher mit seinem Partner. Doch was, wenn man mit
dem Partner Probleme hat? Ein lautes Fluchen schreckt ihn aus seinen Gedanken.
Herr Schnarchendorff hat anscheinend das Gleichgewicht verloren und ist beim
Versuch nicht hinzufallen in die Primeln getreten, deren Blüten jetzt völlig
zerquetscht sind. „Wenn meine Frau das sieht, die zieht mir die Ohren lang. Ja
ja, es stimmt schon was man sagt: Gott prüfet die seinen in der Kelter des
Lebens.“
Beim Weggehen geht ihm dieser
Spruch nicht mehr aus dem Kopf und auch die daraus folgende Erkenntnis: „Dann
müsste ich schon ein Spitzenwein sein.“ Den Ausgang schon in Sichtweite, bleibt
er kurzerhand stehen. War da nicht gerade ein Knacken im Gebüsch? Er geht näher
heran und entdeckt eine junge Frau, die im Rhododendron kniet und einen
Coffee-to-go-Becher aufhebt. Ihre Haare sind dünn und strähnig, sie trägt einen
schwarzen Rock und ausgelatschte Schuhe. Zuerst will er weitergehen, doch dann
entschließt er sich, die Frau anzusprechen. „Entschuldigung, kann ich Ihnen
helfen? Haben Sie etwas verloren?“ Doch bevor er eine Antwort bekommt, sieht er
es schon selber. Neben der jungen Frau liegt eine Plastiktüte voll mit Müll.
„Nein, ich sammle nur den Müll auf.“ „Sind Sie von der Stadtreinigung?“ Die
Frau lacht laut auf. „Ich von der Stadtreinigung? Nein, das ist zwar meine
Arbeit, aber bei der Stadt bin ich nicht angestellt.“ „Achso, dann sind Sie von
der Friedhofsverwaltung?“ Die Frau kann kaum aufhören zu lachen und presst
hervor: „Auch das nicht. Aber mir ist immer so furchtbar langweilig und damit
ich etwas Sinnvolles tun kann, sammel ich eben den Müll auf. So einfach ist
das. Das habe ich schon immer gemacht, bis dieser LKW um die Ecke kam… .“ Etwas
Sinnvolles. Das würde er auch gerne tun, aber gab es das wirklich? War Müll
aufsammeln sinnvoll? Es kam doch ständig neuer dazu. Sisyphos kommt ihm in den
Sinn. Doch bevor er die Unterhaltung über griechische Sagen mit der jungen Frau
beginnen kann, ist sie auch schon im nächsten Gebüsch verschwunden. Als er
gerade durch den Ausgang gehen will, kommen ihm drei Frauen mit Kinderwagen
entgegen. Ein komisches Bild denkt er: Soviel neugeborenes Leben auf einem
Friedhof!